Thema: Ab wann kann man wieder die Ukraine besuchen?  (Gelesen 1364 mal)

Reisekerl

« am: 04. Februar 2023, 06:55 »
Wie denkt ihr darüber nach, ab wann man wieder in die Ukraine reisen kann?

Nur um das Klarzustellen: Ich habe es nicht vor und würde es auch aktuell jedem davon abraten, der keinen guten beruflichen Grund dazu hat. Andererseits: Der Maßstab kann ja auch nicht sein, zu warten, bis dort alles (wieder?) perfekt ist.

Ich würde die folgenden Kriterien anlegen:
1. persönliche Sicherheit
2. kein Schaden für das Land anrichten durch Besuch
3. kein Katastrophentourismus
4. es muss die Möglichkeit geben, Orte zu besuchen und Sachen zu unternehmen

1. sollte klar sein, ich will mich nicht unnötig in Gefahr begeben. Gegenargument: Andererseits ist das auch eine Sache von Wahrscheinlichkeiten. Wenn man Lvyv oder Kiev besuchen würde, dann hielte ich die Risiken bereits jetzt für sehr gering. Wir gehen ja auch oft andere persönliche Risiken ein, z.B. durch Kriminalität in Lateinamerika oder politische Risiken durch Besuche wie den Iran.

2. das Land sollte vom Besuch etwas haben: Z.B. Einnahmen durch Tourismus und die Leute von dort sollten sich über einen Besuch freuen (siehe auch 3.)

3. ich halte es für moralisch verwehrflich, sich menschliches Leid zur Unterhaltung anzuschauen. Gegenargument: Wir reisen auch in sehr arme Länder und begegnen dort bettelnden Kinder und hungrige oder kranke Menschen. Die meisten von uns finden das vermutlich schon sinnvoll, eben weil man nicht die Augen davor verschließen möchte, wie ein Teil der Menschheit lebt und weil man meistens eher einen positiven Beitrag vor Ort leistet und es den Horizont erweitert.

4. in Zeiten von Stromausfällen, Ausgangssperren etc. ist Reisen natürlich auch etwas sinnlos. Gegenargument: auf anderen Reisen sind eben auch oft die Ausnahmesituationen prägend

Ja klar: Jeder von uns fände die ersten aktuellen Reiseberichte auf einem seichten Lifestyle Blog ("mein gefährlicher Trip an die Front") sehr übel.

Was mich stutzig macht: Ich war schon in ein paar Ländern in Ausnahmesituationen und bin jedes mal froh, dortgewesen zu sein und würde es vor jedem rechtfertigen wollen.

Ich war 2016 in der Ukraine (Kiev, Odessa, Lvyv und Abstecher nach Moldawien): Ich bin sehr froh es getan zu haben. Doch auch damals war bereits Krieg im Donbass: Ich habe z.B. Ausstellungen besucht, die Kriegsleid gezeigt haben und mich in Kyiv mit einem jungen Mann unterhalten, der sich als Freiwilliger gemeldet hatte und auf dem Weg an die Front war. Aus ähnlichen Gründen wie heute (persönliche Sicherheit, kein Katastrophentourismus) habe ich es auch vermieden, in die Ostukraine zu reisen (oder Chernobyl zu besuchen).

Wie gesagt, ich habe es nicht vor. Aber wenn sich der Konflikt wieder beruhigen würde und es z.B. einen dauerhaften Waffenstillstand geben würde, dann würde ich auch keine 5-10 Jahre mehr warten, sondern vielleicht eher dort hinreisen.

Wie seht ihr das?
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gismarett

« Antwort #1 am: 04. Februar 2023, 16:55 »
Ich kann die Argumente dafür und dagegen gut verstehen. Ich denke letztlich ist es eine sehr persönliche Entscheidung...

Eine Person aus meinem sehr sehr nahen Umfeld arbeitet in der Sprachförderung (mit entsprechender Ausbildung). Normalerweise mit Kindern aber als der Krieg angefangen hatte, gab es einen großen Bedarf an Lehrkräften für die Flüchtlinge aus der Ukraine (übrigens sind das nicht nur ukrainische Staatsbürger). Dementsprechend habe ich vieles auch persönlich mitbekommen. Gerade in der Anfangsphase hat man von Verzweiflung über Angst alles zu verlieren bis hin zu Hass gegenüber Russland alles mögliche erlebt. Niemand konnte sich vorstellen in das Land zurückzugehen und die Familien waren froh, wenn sie von ihrem Mann/Vater etwas gehört haben. Die Geflüchteten waren größtenteils sehr Froh über die Unterstützung und das Angebot hier in DE.

Als nach einigen Monaten die Urkaine Erfolge verzeichnet hatte, gab es für viele auch wieder Hoffnung. Die Anfangs sehr negative Stimmung hat sich in der Zwischenzeit in 3 große Hauptlager geändert. Für einige war klar, dass sie in Deutschland bleiben möchten. Sie haben in der Zwischenzeit an ihrem Leben hier vor Ort gearbeitet. Das "Problem" des Krieges ist zwar weiterhin in ihrem Köpfen aber sie haben sich damit abgefunden und sehen die neue Entwicklung als Chance. Darunter sind Personen die hier ein "besseres" Leben führen können aber auch Personen die alle ihnen wichtigen Menschen verloren haben und die nicht zurück wollen, weil es sie nur daran erinnert was sie verloren haben.
Die 2. Gruppe leidet sehr unter den Bedingen in DE (z.B. keine Möglichkeit zu arbeiten/studieren in Kombination mit beschissenen Bedingungen in den Heimen/Unterkünften). Noch ist die Angst zu groß zurückzugehen. Egal ob es um die Angst ums eigene Leben geht oder darum zu sehen was sie alles verloren haben...
Die 3. Gruppe ist die für deine Frage interessante Gruppe: Mit den Erfolgen ist sie zurückgereist. Teilweise nur, um Dinge zu holen und wieder nach Deutschland zu kommen oder um den Mann/Vater zu sehen, welche nun Urlaub hatte vom Militärdienst oder auch um komplett zurückzugehen (inbs. Personen, welche nicht aus den Kriegsgebieten kommen). Von allen habe ich gehört, dass das Leben außerhalb der Kampfgebiete ganz normal ist. Das es inzwischen auch nicht mehr an Waren mangelt oder die Grundversorgung (auch Strom, Wasser usw.) gesichert ist. Die Infrastruktur ist hier vorhanden und die Sicherheit ist auch gegeben (sofern man natürlich einkalkuliert, dass Raketen jederzeit überall hinkommen könnten - Ich nehme an die Personen haben das psychologisch begründet ausgeblendet und das kann ich vollkommen nachvollziehen!). Die Bilder die ich aus den ehemals umkämpften Gebieten gesehen habe sprechen aber eine andere Sprache. Wer die bilder aus dem 2. Weltkrieg in Dresden usw. vor Augen hat der hat eine gute Vorstellung von der Zerstörung. Die Menschen dort haben alles verloren und versuchen einfach nur zu überleben (in Bruchbuden und Ruinen). Ja es wird langsam aufgeräumt und aus der Not heraus wird auch alles bestmöglich aufgebaut aber die Leute dort haben vermutlich andere Sorgen als Touristen. Bilder aus Kampfgebieten habe ich nicht gesehen aber dort dürfte es noch viel schlimmer sein. Ich weiß der Text ist schon viel zu lange aber was ich hier geschrieben habe ist nur ein Bruchteil von dem was ich mitbekommen habe und das ist wiederum nur ein ganz ganz kleiner Ausschnitt der Realität.

Also um deine Punkte nun aufzugreifen:
1. Sicherheit: Ja in den nicht umkämpften Gebieten gegeben mit einem minimalen Restrisiko, in den ehem. umkämpften Gebieten größtenteils, im Kriegsgebiet nein.
2. Einen Schaden richtest du nur an, wenn du dich daneben benimmst, in Kriegsgebiete reist oder übermäßig konsumierst bzw. die Lage vor ort zu deinem Vorteil ausnutzt...
3. Ja dann darfst du nur in die Gebiete in denen es keine Kämpfe gab.
4. Gibt es theoretisch. Aber du wirst die wahre Schönheit des Landes vermutlich nicht sehen bzw. nicht vollständig.

Also man kann theoretisch schon wieder ins Land reisen. Aber ich persönlich mache es nicht und das trotz Einladung. Es ist mir zu gefährlich und zudem habe ich den Eindruck, dass ich dort nichts sinnvolles tun kann, sondern nur Dinge wegkonsumiere. Tourismus ist sicherlich ein wichtiger Faktor für die Wirtschaft und damit auch eine Hilfe für die Ukraine. Aber ich kann mich mit dem Gedanken trotzdem nicht anfreunden. Wenn ich helfen will, dann habe ich dafür bessere Wege gefunden.
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Reisekerl

« Antwort #2 am: 05. Februar 2023, 20:24 »
Danke für die interessante Schilderung.

Ich lese etwas heraus, dass dich aktuell vor allem Punkt 2. (kein Schaden für das Land anrichten durch Besuch) stoppen würde. Etwas in so einer Situation "wegzukonsumieren" mit unklarem Nutzen für das Land ist eben etwas Schlechtes.

Wenn man jetzt 1000€ oder 2000€ für eine Reise nach Lviv oder Kiev ausgeben würde, dann kann man dem Land sicherlich mehr helfen, in dem man das spendet. Die Frage ist nur, ob man das auch wirklich macht.
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